1.6 Perspektiven und Fluchtpunkte

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aiiki
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1.6 Perspektiven und Fluchtpunkte

Beitrag von aiiki »

1.6 Perspektiven und Fluchtpunkte

Dachtest Du, Du hättest jetzt Deinen Angstgegner, die Schatten geschafft und ab jetzt wird es leichter?
Dir steht eine herbe Enttäuschung bevor. Jetzt wird’s erst richtig knifflig.

Zeichnungen sind immer zweidimensional, wir sehen unsere Umwelt aber dreidimensional.
Deshalb basieren alle Zeichnungen eigentlich auf optischen Täuschungen.
Oder konkreter gesagt: Das Ganze ist ein riesengroßer Beschiss.

Wir gaukeln unserem armen ahnungslosen Auge eine Tiefenwirkung, also Dreidimensionalität, vor die gar nicht vorhanden ist (Wie sollte das auch gehen auf einer zweidimensionalen Fläche?).
Im Klartext heißt das:
Wir zeichnen das, was unser Auge sieht (besser gesagt: zu sehen erwartet) und nicht das, was tatsächlich da ist.

Ein Beispiel:

Wir sehen ein Haus.

Wir wissen auch dass es überall gleich breit und hoch ist.

Nur sehen wir es in den seltensten Fällen so.
Bild

Stehen wir unten davor und schauen an der Fassade
hoch bietet sich uns ungefähr so ein Anblick:

Bild
FroschperspektiveStehen wir auf einem Gebäude das noch höher ist und
schauen auf das Haus herunter sieht es etwa so aus:

Bild
Vogelperspektive

Und genauso zeichnet man auch:
Man malt stets das was man wirklich sieht und nicht das was man glaubt zu sehen.

Vergiss alles, was Du zu wissen glaubst und sieh genau hin. Dann klappt das auch!

Und schon hast Du den obersten Grundsatz der Perspektivwirkung gelernt:
Alles was weiter von uns entfernt ist erscheint uns kleiner (und wird auch so dargestellt).

Jetzt fragst Du Dich sicher: Und woher soll ich wissen um wieviel kleiner ich welchen Teil meines Bildes nun zeichnen soll?

Dafür gibt es ein Hilfsmittel- die Fluchtpunkte.

In Wikipedia sind sie so erklärt:
"In einer perspektivischen Abbildung schneiden sich die Bilder aller Geraden, die im Original zueinander parallel verlaufen, in einem gemeinsamen Fluchtpunkt."
Den ganzen Beitrag kannst Du hier nachlesen.
Es sind auch sehr anschauliche Bilder dabei die die Sache untermalen. (Und ich muss nicht so viele Beispielbilder basteln.... ;) )

Was heißt das nun für uns?
Ganz klar: Objekte, die sich direkt auf dem Fluchtpunkt befinden sind auch wirklich nur noch das: Ein Punkt! Alles andere liegt größenmäßig irgendwo zwischen Deinem Standort und eben jenem Punkt. Und zwar proportional.
Machen wir uns auf „Fluchtpunktsuche“.


Ich habe eben mal aus meinem Küchenfenster gesehen und habe auch gleich welche gefunden.

Man sieht deutlich wie sich die Fenster immer weiter verkleinern je weiter sie entfernt sind. Das Gleiche gilt natürlich auch für alle anderen Objekte, also die Autos, Bäume, Laternen…usw.
Bild

Und noch eine Sache sieht man ganz deutlich:
Fluchtpunkte die in die Tiefe gehen befinden sich immer am Horizont (sonst würden ja Häuser im Himmel enden). Diese wegweisende Erkenntnis brauchst Du z.B. beim Malen von Landschaften.

Das Blöde ist dass sich die Dinger manchmal auch weit außerhalb des Bildes verstecken.

Wenn sie wirklich ganz weit entfernt sind kann man sie beim Zeichnen vernachlässigen.
Die Verkleinerung der Objekte oder Objektteile ist dann so minimal dass sie nicht ins Gewicht fällt.
Bild

Dass sich auf dem zweiten Bild übrigens unten auch noch ein Fluchtpunkt findet liegt daran dass ich beim Fotografieren so weit oben gestanden habe.
Und das führt uns gleich zur nächsten Erkenntnis:

Wo die Fluchtpunkte sind richtet sich danach wo unser Standort (oder auch Bildbetrachtungspunkt) ist und wie unser Blickwinkel ist. Tiefen-Fluchtpunkte liegen immer auf der waagerechten Horizont-Linie.


Und wie nutzen wir dieses neu erworbene Wissen nun?

Ein Beispiel:
Ich bin in meinem heißgeliebten Garten. Hinten steht mein Pflaumenbaum und vorne mein Kirschbaum (die stehen wirklich da). Ich möchte dazwischen …sagen wir mal… einen Busch malen der ein Viertel so hoch wie die Bäume ist.

Auch meine Bäume unterliegen den Gesetzmäßigkeiten der Perspektive.
Also kann ich sie durch Fluchtlinien verbinden und brauche jetzt nur noch den Zwischenraum zu vierteln.

Der Busch, der ja ein Viertel so hoch wie die Bäume sein soll hat jetzt, egal wo er steht, eine klare Größenbegrenzung.

Der eigentliche Fluchtpunkt ist in diesem Fall wiedermal (wie übrigens meistens) außerhalb des Bildes.
Aber das stört uns ja nicht wirklich....
Bild

Kommen wir zur dritten Gesetzmäßigkeit der Perspektive (Keine Angst: Es ist vorerst die Letzte.):

Linien, die sich auf der dritten Achse, der Achse, die uns die Tiefe vorgaukelt, befinden verkürzen sich. Glaubst Du nicht?
Dann schau mal hier:

Bild
1.Wir sehen einen Würfel und die haben ja bekanntlich überall gleich lange Kanten.

2.Wenn Du das tatsächlich so zeichnest und alle Kanten gleich lang darstellst bekommst Du so ein Monster wie es auf der zweiten Abbildung zu sehen ist. (Die Kanten sind wirklich gleich lang – Du kannst es nachmessen)

3.Erst mit der Verkürzung der Kanten die auf der Z-Achse liegen sieht das Ganze nach einem Würfel aus.

Noch etwas höchstwissenschaftliches Fachwissen das aber eigentlich niemand braucht?
Die X-Achse, also die Achse, die waagerecht verläuft, heißt Abzissenachse. Die senkrechte Y-Achse heißt Ordinatenachse. Und die Z-Achse - das ist die, die in die Tiefe geht - hat den wunderschönen Namen Applikantenachse.
(Nur falls Du mal mit Deinem unschlagbaren Fachwissen angeben willst :kicher: .)
Kannst Du aber auch gleich wieder vergessen. Uns genügt X, Y und Z völlig. Sooo versnobt sind wir dann doch nicht.

Es gibt komplizierte mathematische Formeln mit denen man die relative Verkürzung bezogen auf den Neigungswinkel der Achse berechnen kann.
Das wäre aber – glaube ich- übertrieben. Merk Dir als Faustregel einfach dass sich diese Achse bei einer Neigung von 45° um ca. die Hälfte verkürzt. Ist die Neigung noch steiler ist auch die Verkürzung noch stärker. Im Umkehrschluss ist die Verkürzung nicht ganz so groß wenn die Neigung unter 45° liegt.

So ganz überzeugt bist Du noch nicht?

Gut! Dann ist es wiedermal Zeit für eine Foto-Session….

In der Küche waren wir ja schon also geht’s dieses Mal auf den Balkon.
Du siehst den neuen Anbau der Schule gegenüber. (Daran haben die Deppen übrigens 3 Jahre gebaut).

Das Gebäude hat einen quadratischen Grundriss (Ich bin es extra abgelaufen und Du bist bitte nicht wieder so skeptisch!).

Die Y-Achse, also die Höhe können wir jetzt mal vergessen. Sie ist unerheblich.

Interessant ist der Vergleich zwischen X- und Z-Achse. Beide Kanten sind definitiv gleich lang. Aber sehen wir sie auch so?
Du kennst den Spruch der jetzt kommt schon:

Schau genau hin und zeichne was Du siehst und nicht was Du weisst….
Bild

Und jetzt…..


… jetzt hast Du es geschafft und Dich durch die ganze Theorie gequält.


Herzlichen Glückwunsch zu soviel fundiertem Grundwissen!

Endlich kann es losgehen und wir malen unser erstes Bild!

Bild
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